10

 

Elise bemühte sich, mit Tegan Schritt zu halten, als sie eine dunkle Straße nach der anderen hinunterrannten. Sie wusste, dass sie ihn aufhielt; kein Mensch konnte mit der unglaublichen Schnelligkeit der Stammesvampire mithalten. Auch der Rogue, der sich eben an ihre Fersen geheftet hatte, war tödlich schnell.

Sobald Tegan seinen Anruf im Hauptquartier beendet hatte, sichtete er auch schon diese neue Bedrohung, die auf sie zukam.

„Hier lang“, sagte er, packte ihre Hand und zog sie in einen engen Durchgang zwischen zwei Gebäuden aus der Kolonialzeit.

Hinter ihnen hörte Elise das Geräusch von schweren Stiefeln.

Eine Sekunde lang war alles still, dann ertönte ein lautes metallisches Scheppern. Sie warf einen Blick über die Schulter und sah, dass ihnen nun ein anderer Rogue im Nacken saß. Der riesige Vampir hatte sich in die Luft erhoben und war auf einer Feuertreppe gelandet, die an der Seitenwand des alten Ziegelbaus hing. Wieder machte er einen Satz und schwang sich dann aufs Dach hinauf, um sie von oben weiter zu verfolgen.

„Tegan - da oben!“

„Ich weiß.“

Seine Stimme war grimmig, seine Hand fest um ihre geschlungen, als sie sich dem Ende des Durchgangs näherten. Sein Griff war so fest wie Eisen, ein unausgesprochenes Versprechen, dass er sie nicht loslassen würde. Elise holte sich Kraft von ihm, zwang ihre Beine dazu, schneller zu rennen, beachtete ihre schmerzenden Lungen nicht und das Brennen im Arm, dort, wo der Rogue sie bei seinem Angriff aufgeschlitzt hatte.

Als sie aus dem Durchgang auf die dahinter gelegene Straße rannten, kam ein dunkler Geländewagen mit quietschenden Reifen angebraust und legte vor ihnen am matschbedeckten Bordstein eine schliddernde Vollbremsung hin. Die hintere Tür flog auf.

„Rein mit euch!“

Tegan ließ ihre Hand nur los, um sie in das Fahrzeug zu stoßen, und Elise fiel mit wild hämmerndem Herzen auf die lederbezogene Rückbank. Mit einer Bewegung, so schnell, dass sie mit bloßem Auge kaum noch wahrzunehmen war, fuhr er herum, zückte den Dolch und ließ ihn in den Durchgang fliegen.

Irgendwo in der Dunkelheit ertönte ein Schmerzensschrei, dann folgte das tiefe, qualvolle Aufheulen eines Rogue, der an der Spitze von Tegans Titanklinge verendete.

Tegan schlüpfte neben Elise in den Geländewagen und knallte die Tür zu. „Gib Gas, Dante. Es sind noch mehr unterwegs.

Kommen von oben …“

Im selben Moment fiel etwas Schweres auf das Wagendach.

Mit quietschenden Reifen legte Dante den Rückwärtsgang ein und schleuderte den Rogue auf die Kühlerhaube. Nach einem schnellen Zickzackmanöver fiel er vollends vom Wagen, und als sich der wutschnaubende, rasende Rogue auf der Straße abrollte und wieder hochkam, lehnte sich der ledergewandete Krieger auf dem Beifahrersitz aus dem offenen Fenster und verpasste ihm einen gnadenlosen Kugelregen. Er stieß einen heiseren Kampfschrei aus, als eine scheinbar endlose Salve wie Donner durch die Nacht hallte.

Als sie endlich verstummte, stieß Dante einen trockenen Fluch aus. „Du bist vielleicht einen Tick zu exzessiv, Kumpel, aber ich schätze, der Blutsauger hat dich verstanden.“

Der grimmige Kerl auf dem Beifahrersitz gab ihm keine launige Antwort, man hörte nur das kalte, metallische Klicken und Scharren, als er ein frisches Magazin einschob.

„Alles klar?“, fragte Tegan neben Elise, um ihre Aufmerksamkeit von der Gewaltorgie auf der Straße abzulenken.

Sie nickte. Ihr Keuchen war zu heftig, um reden zu können, immer noch raste ihr Herz vor Angst. Zu sehr war sie sich Tegans Körper bewusst, der da neben ihr saß. Von seiner Hitze fühlte sie sich seltsam getröstet. Sein muskulöser Oberschenkel presste sich gegen ihren, sein Arm ruhte lässig hinter ihrem Kopf auf der Rücklehne. Elise wusste, dass der Anstand es erforderte, Distanz zwischen ihn und sich zu bringen, aber sie war viel zu erschöpft, um sich zu rühren.

Als der Geländewagen in die Nacht raste, begann wieder all die menschliche Verkommenheit der Stadt in ihren Kopf zusickern, ihre Gabe spaltete ihr den Schädel.

„Komm her“, murmelte Tegan und legte ihr sacht die Hand auf die Stirn. Seine Berührung versetzte sie in Trance und linderte ihre Kopfschmerzen, noch bevor sie wirklich beginnen konnten. Seine Hände fühlten sich sehr sanft an, obwohl seine Miene kühl und unbewegt war. „Besser so?“

Sie konnte nicht umhin, erleichtert aufzuseufzen. „Ja, viel besser.“

Er ließ seine Hand noch einen Augenblick liegen, dann zog er sie weg. Als er das tat, fühlte Elise den Blick des Mannes auf dem Beifahrersitz. Als sie aufsah, begegnete sie seinem abschätzenden Blick. Die blauen Augen unter den hellen Brauen und der schwarzen Strickmütze musterten sie intensiv, aber nicht gerade freundlich.

Du lieber Himmel.

„Sterling“, flüsterte sie verblüfft.

Er sagte nichts. Die Stille schien sich unendlich auszudehnen.

Seit vier Monaten hatte sie ihn nicht mehr gesehen - nicht seit Camden in jener schrecklichen Nacht direkt vor ihrem Haus gestorben war. Damals war Sterling allein davongegangen, und das war das Letzte, was man in den Dunklen Häfen von ihm gehört hatte. Elise wusste, dass er sich Vorwürfe machte, Camdens Leben ausgelöscht zu haben - auch sie hatte ihm deswegen Vorwürfe gemacht. Aber sie wusste auch, dass sie ihm damit Unrecht tat, und ihn jetzt so unerwartet zu sehen, zog ihr das Herz zusammen. Sie wollte ihm sagen, wie leid es ihr tat … wie leid ihr alles tat.

Aber diese Augen, die sie einst voll edlem Mitgefühl und sogar Zuneigung angesehen hatten, wandten sich nun mit einem langsamen, abweisenden Blinzeln wieder ab. Sterling Chase war nicht länger ihr Schwager. Er war nun ein Krieger, und wenn sie hoffte, dass er ihr Verbündeter geblieben war - immerhin war er ihr letzter lebender Verwandter -, dann schwand diese Hoffnung dahin, als der Geländewagen aus der Innenstadt brauste, auf dem Weg zum Hauptquartier des Ordens.

 

„Ist Lucan immer noch oben?“, fragte Tegan, als Gideon ihn und die anderen bei ihrer Ankunft im Hauptquartier begrüßte.

„Er ist vor etwa zwanzig Minuten von seiner Patrouille zurückgekommen. Wollte lieber noch dableiben, nachdem du angerufen hattest.“

„Gut. Ich muss ihn sehen. Ist er im Techniklabor?“ Gideon schüttelte den Kopf. „Er ist bei Gabrielle in seinem Quartier.

Was zum Teufel ist da los, T?“

„Sieh zu, dass sie medizinisch versorgt wird, sie ist verletzt“, sagte Tegan statt einer Antwort und wies auf Elises blutigen Arm. Und schon war er mit dem Buch, das Elise abgefangen hatte, den Gang hinunter zu Lucans Privatwohnung im Hauptquartier unterwegs.

Er fand den Gen-Eins-Anführer des Ordens im Lieblingsraum seiner Gefährtin - der Bibliothek, die von der Decke bis zum Boden von Bücherregalen gesäumt war. Dort hing auch ein handgestickter Gobelin, auf dem Lucan persönlich dargestellt war: Er saß unter einem wolkenverhangenen Halbmond in einer Ritterrüstung auf einem steigenden mittelalterlichen Schlachtross. Im Hintergrund war eine Burg auf einem Berg zu sehen, die in Flammen stand. Rauch stieg von der Brüstung empor, die Burg wurde offenbar belagert - Lucan hatte eine Kriegserklärung ausgesprochen.

Tegan erinnerte sich an die Nacht, die diese kunstvollen Nadelstiche eingefangen hatten. Er erinnerte sich an all das Gemetzel, das ihr vorangegangen war und das auf sie folgte. Er war mit Lucan dort gewesen, als inmitten von Blut und Wahnsinn der Orden entstand - sie beide und sechs andere hatten sich mit dem Schwur zusammengeschlossen, für die Zukunft ihrer Rasse, des Mitternachtsvolkes, zu kämpfen.

Gott, wie lange das schon her war, ein ganzes Leben. Viele Leben.

Der Orden hatte bis zu diesem Moment eine Menge Tod gesehen, in den eigenen Reihen und außerhalb. Die meisten der ursprünglichen Mitglieder waren über die Zeiten und in den vielen Schlachten verloren gegangen. Von dem ursprünglichen Kader aus acht Kriegern hatten nur Tegan, Lucan und Lucans älterer Bruder Marek überlebt. Und nun war Marek zu ihrem gefährlichsten Gegner geworden, war vor Kurzem wieder aus der Versenkung aufgetaucht und hatte sich zum Anführer der Rogues ernannt.

Als Tegan in der offenen Tür zur Bibliothek stehen blieb, sah Lucan von einer Auswahl Farbfotos auf, die Gabrielle vor ihm auf dem niedrigen Couchtisch in der Mitte des Raumes ausgebreitet hatte. Sie besaß eine Gabe, die ihren künstlerischen Schönheitssinn noch übertraf: Gabrielles Kameralinse wurde geradezu magisch von Vampirbehausungen angezogen, sowohl den Dunklen Häfen als auch Rogue-Nestern. Das war einer der Gründe, warum sie und Lucan sich im letzten Sommer kennengelernt hatten. Mittlerweile war es für die Stammesgefährtin nicht ungewöhnlich, von gelegentlichen Tagesausflügen in die Stadt und ins Umland mit Fotos zurückzukommen, die den Ordenskriegern bei ihren nächtlichen Expeditionen an die Oberfläche, um Rogues aufzuspüren, äußerst nützlich waren.

Aber diese spezielle Kollektion war anders.

Selbst aus der Entfernung wurde Tegans Blick von lebendigen, sonnenerfüllten Aufnahmen des winterlichen Herrenhauses mit seinen Gärten angezogen. Auf den Ästen und Zweigen glitzerte das Eis wie Diamanten, und auf einer der Aufnahmen war ein Rotkardinal in Nahaufnahme zu sehen, der Farbklecks wirkte fast schockierend gegen den frischen, weißen Schnee. Einige der Fotos hatte sie in der Innenstadt aufgenommen, manche zeigten Kinder in einem der Parks der Umgebung, wie sie eingemummt in bunte Schneeanzüge riesige Schneebälle für eine Familie von Schneemännern rollten, die halb fertig in der Nähe stand.

All dies waren Dinge, die Stammesvampire nicht oft zu sehen bekamen, und für die Krieger galt das in besonderem Maße.

Lucans Gefährtin hatte die Fotos ihm zuliebe gemacht, um ihm eine Freude zu bereiten. Sie brachte ihm Bilder von einer Welt, die in helles Tageslicht getaucht war und zu der er keinen Zugang hatte.

Mit einem innerlichen Achselzucken sah Tegan von den Bildern auf, es kam ihm nicht richtig vor, an dieser Freude teilzuhaben. Sie gehörte ihm nicht, und er war weiß Gott nicht hergekommen, weil er mit ihnen auf Familienglück machen wollte.

„Sieht dir nicht ähnlich, Verstärkung anzufordern, Tegan“, meinte Lucan gedehnt. In den grauen Augen des legendären Kriegers war der Glanz eines Lächelns zu sehen, als er Tegan über den Raum hinweg ansah, der aber schlagartig Ernüchterung wich. „Haben wir mal wieder mit neuem Ärger zu rechnen?“

„Könnte sein.“

Der Gen-Eins-Anführer des Ordens nickte ernst. Schon ihr Blickwechsel genügte vollkommen, um ihn darüber in Kenntnis zu setzen, dass es mit dieser Nacht von jetzt an bergab gehen würde.

Und wie, dachte Tegan. Er hatte das seltsame Tagebuch unter dem Arm, aber der alte Verhaltenskodex des Ordens ließ ihn zögern. Normalerweise besprachen die Krieger beunruhigende Angelegenheiten des Ordens nicht vor Frauen. Aber es entging ihm nicht, dass Lucan, anstatt sich zu erheben und den Raum zu verlassen oder Gabrielle darum zu bitten, sie allein zu lassen, die Hand ausstreckte und Gabrielles Hand nahm. Er nickte ihr leicht zu, als sie sich wieder neben ihm in den Sessel setzte. Die Geste kündete von Respekt und Solidarität.

Es war eine eindeutige Stellungnahme: Sie waren eine Einheit, und während Lucan durchs Feuer gehen würde, um sie zu beschützen, hatte der ehrwürdige Krieger keine Geheimnisse vor ihr. Zweifellos würde sie sich auch gar nichts anderes gefallen lassen.

So war es mit den beiden vom ersten Tag an gewesen, als sie als Lucans Gefährtin im Hauptquartier eingetroffen war. Das Gleiche konnte man auch von Gideon und Savannah sagen, die schon seit über dreißig Jahren zusammen waren und eine ebenso solide Beziehung führten. Dante und Tess waren ebenfalls zwei Hälften eines Ganzen, obwohl sie erst ein paar Monate ein Paar waren.

Stammesgefährtinnen hatten ihre Freiheiten, selbst die, die sich mit einem Krieger des Ordens verbunden hatten, aber im ganzen Vampirvolk gab es keinen einzigen Mann, der gutheißen würde, was Elise in den Monaten getan hatte, die sie an der Oberfläche lebte. Und was sie auch weiterhin tun wollte, selbst wenn es sie umbrachte.

„Sag mir, um was es geht“, sagte Lucan und bedeutete Tegan, ins Zimmer zu kommen. „Gideon sagte, du hast angerufen und ihm mitgeteilt, dass eine Verletzte aus den Dunklen Häfen bei dir war.“

Tegan hob zustimmend eine Augenbraue. „Elise Chase. Und so wie es aussieht, ist sie keine aus den Dunklen Häfen mehr.“

„Sie hat ihr Reservat verlassen?“

„Nach dem Tod ihres Sohnes. Seither lebt sie allein in der Innenstadt.“

„Lieber Himmel. Was ist heute Abend mit ihr passiert?“

Tegan lächelte säuerlich, immer noch konnte er nicht glauben, wie hartnäckig diese Frau war.

„Sie hat ungebetenen Besuch von den Rogues bekommen.

Sie sind auf der Suche nach ihr in ihre Wohnung eingefallen.“

Die Tatsache, dass einer der Bastarde sie erreicht hatte, bevor er es hatte verhindern können, ließ er aus. Der Gedanke daran brannte immer noch in ihm. Wut kochte unter seiner unbeteiligten Fassade, er war nach wie vor wütend auf sich selbst.

Gabrielle runzelte die Stirn. „Was wollen sie denn ausgerechnet von Elise?“

„Das hier.“ Tegan hielt Lucan das Buch hin. Der nahm es ihm aus der Hand und machte ein finsteres Gesicht, als er das verblasste Prägemuster auf dem alten Leder des Einbandes berührte. Dann blätterte er durch einige der angegilbten Seiten.

„Es kam per FedEx, ein Lakai sollte es dort abholen. Jemand hatte es extrem eilig, es in die Finger zu bekommen.“

Lucans Blick war ernst und sorgenvoll. Um wen es sich bei diesem Jemand handelte, konnte er sich zweifellos denken.

„Und die Frau aus den Dunklen Häfen?“

„Sie hat es abgefangen.“

„Verdammt. Was ist mit Mareks menschlichem Postesel?“

„Der Lakai ist tot“, sagte Tegan schlicht. „Marek muss davon Wind bekommen haben und hat seine Hundemeute losgelassen, um sich das Buch zurückzuholen. Sie hatten das Überwachungsvideo des Ladens, und Elise zu finden war für sie ein Kinderspiel.“

„Was ist das, ein Tagebuch?“, fragte Gabrielle und spähte an Lucan vorbei in die aufgeblätterten Seiten.

„Scheint so“, sagte Tegan. „Offenbar gehörte es einer Familie namens Odolf. Hast du von denen schon mal gehört, Lucan?“

Der Vampir schüttelte den dunklen Kopf und blätterte wieder durch das Tagebuch. Bevor Tegan ihn auf das beunruhigende Symbol am Ende des Textes hinweisen konnte, hatte Lucan die Seite schon selbst aufgeschlagen. Sobald sein Blick auf die handgezeichnete Dermaglyphe fiel, stieß er einen Fluch aus.

„Zur Hölle noch mal, ist das etwa, was ich denke, das es ist?“

Tegan nickte grimmig. „Du erkennst das Muster?“

„Dragos“, sagte Lucan. Auf diesem einen Wort schien ein dunkles, unheilvolles Gewicht zu lasten.

„Wer ist Dragos?“, fragte Gabrielle und spähte wieder an Lucan vorbei auf die Glyphe, die auf die Seite gekritzelt war.

„Dragos ist ein sehr alter Stammesname“, erklärte ihr Lucan.

„Er war einer der Gründungsmitglieder des Ordens - ein Vampir der ersten Generation. Wie Tegan und ich selbst wurde Dragos von einer der uralten Kreaturen gezeugt, von der wir Vampire alle abstammen. Dragos hat damals an unserer Seite gekämpft, als der Orden unseren außerirdischen Vätern den Krieg erklärte.“

Gabrielle nickte, sie zeigte keinerlei Überraschung oder Verwirrung. Offenbar hatte Lucan sie schon über die außerirdischen Ursprünge des Vampirvolkes aufgeklärt und ihr auch von dem blutigen Krieg erzählt, der im vierzehnten Jahrhundert menschlicher Zeitrechnung innerhalb des Stammes ausgebrochen war.

Es waren stürmische Zeiten gewesen, voll Verrat und sinnloser Gewalt - die meiste davon verursacht von den langlebigen wilden Kreaturen von einem fernen Planeten, die nachts auf Beutezug gingen, wahllos Nahrung zu sich nahmen und manchmal ganze Dörfer entvölkerten. Die Alten waren ausgehungert und brutal gewesen und unangreifbar in ihrer Macht.

Bevor es den Orden gab, der gegen sie vorging, waren sie eine blutgierige Pest, der die Menschheit hilflos ausgeliefert war. Im Vergleich zu den Alten waren selbst die übelsten Rogues die reinsten Waisenknaben.

Gabrielle sah von Lucan zu Tegan. „Was ist mit Dragos geschehen?“

„Er fiel in einer Schlacht gegen die Alten, ein paar Jahre nach Kriegsbeginn“, steuerte Tegan bei.

„Könnt ihr euch da sicher sein?“, fragte sie. „Bis letzten Sommer dachten noch alle, dass auch Marek tot wäre …“

Lucan nickte entschieden. „Dragos ist tot, Liebes. Ich habe seine Leiche mit eigenen Augen gesehen. Keiner von uns kann wieder auferstehen, wenn ihm der Kopf fehlt.“

Auch Tegan erinnerte sich an jene Nacht. Es war damals zu großen Verlusten gekommen. Das erste Opfer war Dragos’

Gefährtin, die sich das Leben genommen hatte, nachdem man ihr die Nachricht seines Todes überbracht hatte. Kassia war eine gute, liebevolle Frau gewesen, sie und Sorcha waren wie Schwestern. Nur kurze Zeit nach Kassias Tod hatte Tegan dann auch Sorcha verloren. Es waren dunkle Zeiten, an die Tegan nicht zurückdenken wollte, selbst jetzt nicht. Er hatte gelernt, den Schmerz zu unterdrücken, aber immer noch hatte er so viele Erinnerungen …

Tegan räusperte sich laut. „Was uns zu dem Namen Odolf zurückbringt. Wer ist das? Und was kann er Marek bedeuten?“

„Vielleicht kann Gideon etwas im Computer finden“, schlug Lucan vor, gab Tegan das Buch zurück und stand auf. „Unsere Datenbank ist nicht vollständig, aber sie ist alles, was wir haben.“

„Geht ihr zwei mal suchen“, warf Gabrielle ein, als sie zusammen bis zum Korridor gegangen waren. „Ich werde nach Elise schauen. Sie muss heute Nacht eine Menge durchgemacht haben. Vielleicht könnte sie Gesellschaft und etwas zu essen gebrauchen.“

Lucans Augen verdunkelten sich, als er seine Frau ansah. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, dann drückte er ihr einen Kuss auf die Lippen. Als sie sich aus seiner Umarmung löste, waren ihre Wangen leicht gerötet.

Tegan sah zur Seite und machte sich auf den Weg zu Gideons Techniklabor. Sofort war Lucan hinter ihm, und Gabrielle ging in die entgegengesetzte Richtung davon, um Elise zu suchen.

Es war unmöglich, die Aura der Ruhe nicht zu bemerken, die von Lucan ausging, wenn er mit seiner Gefährtin zusammen war. Vor nicht allzu langer Zeit war auch Lucan wie trockener Zunder gewesen, der nur darauf wartete, dass jemand mit einer offenen Flamme daherkam. Zwar hatte er dabei immer den Anschein eiserner Selbstkontrolle erweckt, aber Tegan kannte ihn länger als die übrigen Krieger im Hauptquartier, und er hatte gewusst, dass Lucan nur wenige Schritte vor einer totalen Katastrophe gestanden hatte.

Blutgier war der fatale Schwachpunkt aller Vampire - der kritische Auslöser, der selbst den ausgeglichensten Vampir in einen Abgrund der Sucht stoßen konnte, aus dem er nie wieder herausfand. Alle Vampire mussten als Nahrung Blut zu sich nehmen, um zu überleben, aber einige gingen dabei zu weit. Sie mutierten zu Rogues, und Tegan war entsetzt gewesen, zu sehen, dass Lucan schon auf Messers Schneide stand, mühevoll über dem Abgrund balancierte. Er war schon fast verloren.

Bis Gabrielle kam.

Sie hatte ihm Halt gegeben, gab Lucan durch ihre Blutsverbindung, was er brauchte, und vertraute ihm, nicht wieder zu fallen. Sie hatte den Krieger gerettet, und es war offensichtlich, dass sie das immer noch tat, jeden Moment, den sie miteinander verbrachten.

„Du hast eine gute Gefährtin“, sagte Tegan, als Lucan ihn einholte und neben ihm den Gang hinunterging.

Er hatte es als Lob gemeint, aber es kam zu hart heraus, fast schon wie eine Anklage. Lucan schien von seinem rauen Ton nicht überrascht, aber er sprang auch nicht auf den Köder an, wie er es sonst vielleicht getan hätte. „Manchmal denke ich an dich und Sorcha, wenn ich Gabrielle ansehe und mir vorstelle, wie es wäre, ohne sie leben zu müssen. Das möchte ich lieber nicht erleben. Wie du das nur geschafft hast …“

„Es geht vorbei“, murmelte Tegan, mit einer Stimme, die selbst in seinen eigenen Ohren zu gepresst klang. „Und der einzige Geist, über den ich jetzt reden werde, ist Dragos.“

Lucan ließ das Thema fallen, als die beiden Vampire das Techniklabor betraten. Wie üblich war Gideon auf seinem Posten hinter der langen Konsole und tippte etwas in die Tastatur eines seiner zahlreichen Computerterminals. „Was bringt ihr mir?“, fragte er sofort, als sie eintraten. Seine Augen und Finger hielten keinen Moment lang inne.

Tegan legte ihm den Frachtschein und das Tagebuch auf den Tisch. „Wir müssten wissen, wer dieses Päckchen abgeschickt hat. Aber zuerst lass eine Suche in unserer internationalen Stammdatenbank durchlaufen. Der Nachname ist Odolf.“

„Alles klar.“ Der Vampir schnapte sich eine schnurlose Tastatur, ließ sie in seinen Schoß fallen und begann, zu tippen.

„Suchen wir nach Kriminalakten, Geburtsurkunden, Totenscheinen …?“

„Ganz egal, was.“ Tegan sah zu, wie auf dem Bildschirm eine lange Liste von Daten durchzulaufen begann. Sie lief und lief, ohne dass das Programm etwas fand. Doch dann blieb ein Eintrag oben stehen, während das Suchprogramm im unteren Teil des Bildschirms weiter durchratterte. „Du hast einen?“

„Der ist leider schon dahingeschieden“, erwiderte Gideon.

„Ein gewisser Reinhard Odolf, aus dem Dunklen Hafen in München. Mutierte im Mai 1946 zum Rogue. Im Jahr darauf Selbstmord durch selbst herbeigeführte Sonneneinwirkung. Da ist noch einer, ein Alfred Odolf, der Blutgier verfallen im Jahre 1981. Hans Odolf, Blutgier, 1993. Dann ein paar Vermisste …

und hier ist wieder einer für euch: Peter Odolf, Dunkler Hafen Berlin.“

Lucan kam näher, um bessere Sicht auf den Bildschirm zu haben. „Ist der auch tot?“

„Nein, der nicht. Oder noch nicht. Peter Odolf, zu Rehabilitierungszwecken in eine Anstalt aufgenommen. Laut der Akte war dieser Junge die letzten paar Jahre lang Rogue und logiert inzwischen auf Kosten der deutschen Agentur.“

„Ist er bei Bewusstsein?“, fragte Tegan. „Kann er befragt werden? Oder vielmehr, sind seine Antworten verlässlich?“

Gideon schüttelte den Kopf. „Der Datensatz ist unvollständig, was seinen aktuellen Zustand angeht. Alles, was wir wissen, ist, dass er atmet und unter ständiger Überwachung einer Berliner Anstalt steht.“

„Berlin, was?“ Lucan warf Tegan einen fragenden Blick zu.

„Schuldet dir dort nicht noch jemand einen Gefallen?“

Tegan wandte sich vom Bildschirm ab und zog sein Handy heraus. „Ich schätze, der Zeitpunkt ist gekommen, um das rauszufinden.“

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